Adressbücher als Quelle zum Beispiel der Wiener Lehmann

In der Geschichtswissenschaft rangieren Adress- und Telefonbücher nur als Teil der Hilfswissenschaft. Doch sind die alten Adressbücher viel mehr als ein Hilfsmittel, wie etwa der Wiener "Lehmann" zeigt. Sie enthalten  mehr Information, als man vermutet. Der Historiker Karl Schlögel nennt sie, „eine eigene Gattung der Dokumentation, in der Orte, Städte, Gesellschaftsgruppen Wissen über sich selbst organisieren und speichern“.

Als die Städte wuchsen und unübersichtlich wurden, lieferten die Redakteure der Adressbücher jährlich Informationen über die laufenden Entwicklungen.
Vordergründig enthält der „Lehmann“ Daten über Haushaltsvorstände und Branchen. Bei genauerem Hinsehen kommt eine Fülle überraschender Informationen zum Vorschein. Schon in der zeitgenössischen Presse wurde der „Lehmann“ als eine Art „Basisbuch“ einer sich rasch entwickelnden Stadt gesehen, als Kaleidoskop des gewerblichen sowie industriellen Fleißes und Abbild der kulturellen und sportlichen Infrastruktur in der Stadt, nicht zuletzt mit Verweisen auf die neuen organisatorischen und technischen Erfindungen (bargeldloser Zahlungsverkehr, Telefon, öffentlicher Verkehr).

Straßenverzeichnisse mit Häusernummerierungen ergänzten die Kartografie; bis schließlich den Wiener Adressbüchern Karten beigelegt wurden.

Vor allem für Genealogen bedauerlich wurden nicht immer alle Menschen erfasst. 1859 war beim alphabetisch geordneten „Nachweis sämmtlicher Einwohner von Wien nebst Umgebung“ ausdrücklich vermerkt, dass dies mit „Ausschluss der Gewerbe-Gehilfen, Tagelöhner, Dienstboten“ geschehe. Später, in den 1890er-Jahren, als das Adressbuch sichtlich mit der wachsenden Stadtbevölkerung nicht mehr zurande kam, wurden die „Nicht-Selbständigen“ (was immer das heißen mochte, denn ein reines Handels- und Gewerbeadressbuch war der „Lehmann“ nie) ebenfalls nicht aufgeführt. Dass Familienmitglieder nicht angeführt wurden und somit die Eintragung den meist männlichen Haushaltsvorständen samt Berufsbezeichnung, Titeln und Orden vorbehalten war, überging der „Lehmann“ dezent. Karl Kraus spöttelt über das Wiener Register, kurz "Lehmann" genannt. "Er ist nicht nur pünktlich, er ist verlässlich. Er gibt Aufschluss über Wien. Die Adressen mögen nicht stimmen. Aber, wahrlich, er ist kein Adressbuch – Adressbücher gibt's überall: Er ist eine Kulturgeschichte!“

In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Adressbücher ein ganz selbstverständlicher Teil vieler europäischer Stadtgesellschaften. In Großbritannien, in Frankreich, auch in den meisten deutschen Städten gab es Adressbücher. Das Geschäftsleben von London, damals der größten Stadt der Welt, war ohne Adressbuch undenkbar; seit 1799 stand das „Post Office London Directory“, kurz „Kelly“ genannt, kontinuierlich zur Verfügung. Mit der Gründung des „Lehmann“ 1859 zog Wien auch endlich mit Berlin in der Hauptstadtkonkurrenz im deutschen Sprachraum gleich, wo es seit 1818 kontinuierlich Adressbücher gab.

Lehmann (1828 bis 1904) wählte nicht die Post (wie in London), sondern die Polizeidirektion als noch höher wertigen Partner.  Hier waren die Daten der Volkszählungen und die Meldedaten gespeichert, hier hatte er einen Apparat zur Verfügung, der sich auch für die Datensammlung einsetzen ließ. Die Polizeidirektion ihrerseits wusste Lehmanns Dienste sehr zu schätzen, da sie mit dem Adressbuch in jeder Polizeiwachstube ein ideales Instrument zur Identifizierung der Bürger in die Hand bekam und einen Partner gewann, der viel Kraft in Formularentwicklung und Datenauswertung steckte.

Die Resonanz auf das erste Erscheinen des Adressbuches 1859 war von erheblicher Ignoranz gezeichnet. Konkurrenzneid und Skepsis gegen das neue Handbuch waren die Hauptmotive, daneben bestand aber der nicht unberechtigte Verdacht, dass sich Lehmann zum Komplizen des autoritären Staates machte. Zehn Jahre später war allerdings das Wiener Leben ohne „Lehmann's Allgemeinen Wohnungs-Anzeiger“ nicht mehr denkbar. Der Ausdruck „Lehmann“ wurde zum Synonym für das Wiener Adressbuch und blieb, noch lange nach Lehmanns Tod, bis in die 1950er-Jahre erhalten.

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1938 kam der „Lehmann“ in den Besitz des Verlages „August Scherls Nachfolger Berlin“. Die Kontrolle über die Scherl-Adressbücher war bereits 1934, nach der Zerschlagung des Hugenberg-Konzerns, auf den NSDAP-Zentralverlag übergegangen. Durch diese Übernahme konnten die Nationalsozialisten die Adressbücher steuern. Der Jahrgang 1938 war bereits vor dem „Anschluss“ gedruckt und ausgeliefert worden. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten konnte sich erst im Jahrgang 1939 auswirken. Die Bombenangriffe und der „totale Krieg“ brachten mit dem Jahrgang 1942 ein Ende des „Lehmann“. Der Jahrgang 1942 wurde in Berlin gedruckt.

Die Personen-, Branchen-, Firmen- und Häuserverzeichnisse der Jahre 1939 bis 1942 gaben sich nüchtern. Nur indirekt ließ sich die Vertreibung der rechtmäßigen Mieter und Eigentümer erschließen. Sie waren einfach nicht mehr da. Andere Personen, die aus der NS-Arisierungs- und Vernichtungspolitik den Nutzen gezogen hatten, waren jetzt als Inhaber oder Mieter verzeichnet, als wäre da ein ganz normaler Geschäfts- und Wohnungswechsel vollzogen worden. Haus für Haus lässt sich dies im „Lehmann“ studieren. Rechtmäßigkeit und Normalität wurden unterstellt, genauso wie auf den Meldezetteln, auf denen oft harmlos vermerkt wurde: „Abgereist nach Theresienstadt“. Erst bei genauer Betrachtung konnte auffallen, wie systematisch und massenhaft die Wohnungs- und Geschäftsbeschaffungen, „Arisierungen“ genannt, stattgefunden hatten.

Die Ausschaltung der Juden aus Handwerk und Gewerbe nach der „Reichskristallnacht“ wurde im Jahrgang 1939 bereits vollzogen. Der „Lehmann“ sperrte nunmehr jüdische Geschäfts- und Firmeninhaber, jüdische Ärzte und Rechtsanwälte aus dem Branchenverzeichnis aus. Noch hielten sich jüdische Mitbürger im Personen- und im Häuserverzeichnis, sie führten nach dem Gesetz vom 1. Februar 1939 allerdings erzwungenermaßen den Vornamen Israel oder Sara. Im Jahrgang 1941 findet sich am Ende der Inhaltsübersicht versteckt die klein gedruckte Anmerkung: „Zur Beachtung! Juden, die als solche für uns nach dem Runderlass des RMdI vom 18. August 1938 sowie nach der 2. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen erkennbar waren, wurden von der Aufnahme ausgeschlossen.“ Die „Stadt ohne Juden“ war auf dem Papier bereits vorhanden, noch bevor die großen Deportationen begannen. Ausschluss aus dem Geschäftsleben, Arisierung und Vertreibung ins Exil in den Jahren 1938 bis 1940 wurden noch öffentlich (wenn auch nur indirekt lesbar) gemacht. Der Abtransport in die Vernichtungslager sollte jedoch nicht mehr nachvollziehbar sein.
Ab 21. 1. „Lehmann“ auf der Homepage der Wienbibliothek online: http://www.digital.wienbibliothek.at/ Aus diesem Anlass zeigt die Wienbiliothek im Rathaus die Ausstellung „Die Vermessung Wiens“.

Bei Amazon bestellen: Die Vermessung Wiens: Lehmanns Adressbücher

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen