Gefahr Ahnenforschung?

Ahnenforschung bedeutet auch, Geschichten dem Vergessen zu entreissen. Die Familie, in die wir hineingeboren werden ist für unsere Identität und unser ganzes Leben prägend, auch wenn die meisten von uns nur etwa 20 Jahre in dieser Familie leben. Wer Ahnenforschung betreibt, macht sich bewusst auf die Suche nach den Vorfahren, möchte Dingen auf den Grund gehen, und die Wahrheit über seine Herkunft erfahren. Nicht immer treten dabei nur angenehme Überraschungen zu Tage. Das Hamburger Abendblatt berichtet von einer britischen Soziologin, die herausfand, dass von 224 Personen, die sie befragt hatte, 30 einen dadurch entstandenen Konflikt meldeten. Das sind mehr als 13 Prozent, ein hoher Prozentsatz für ein scheinbar harmloses Hobby, wie das Abendblatt meint. "Bei der Untersuchung der Geschichte der eigenen Familie könnten die Ahnenforscher eine Büchse der Pandora öffnen", erklärt Anne-Marie Kramer von der University of Warwick. "Dadurch könnten Geheimnisse und Skelette zutage gefördert werden, bei denen es um Vaterschaft, illegitime Nachkommen, um Hochzeiten bedenklich kurz vor der Geburt eines ersten Kindes, um Kriminalität oder schwere Krankheiten oder auch um eine bisher unbekannte Herkunft aus einfachen Verhältnissen geht."

Soll diese Angst uns hindern, mehr über die Familiengeschichte zu erfahren? Und wie soll man mit unangenehmen Wahrheiten umgehen? Zuerst einmal sollte man sich bewusst sein, dass solche Dinge zum Vorschein kommen können. Man sollte auf solche Geheimnisse vorbereitet sein. Ich selbst etwa fand eines der von Anne-Marie Kramer erwähnten "Skelette". Mein geschätzter Urgroßvater Jakob, ein überaus beeindruckender Mann, heiratete seine erste Frau (nicht meine Urgroßmutter) wenige Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes! Es war im Jahr 1872 und damals wohl so etwas wie ein echter Skandal in dem kleinen Dorf. Nie hätte ich das vermutet. Für mich war das jedoch alles andere als bedrückend. Ich fand es interessant und diese Facette des Mannes, den ich nur von Bildern kenne, gibt ihm eine Nuance, die ihn mir sogar etwas näher bringt.

Jeder, der eine Familienbiographie schreiben möchte, wird sich irgendwann entscheiden müssen, die ein oder andere Information in das Buch zu geben, oder es bleiben zu lassen. Familienbiographien haben den Vorteil, an sich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Persönlich rate ich jedoch zu absoluter Ehrlichkeit, wenn man eine Geschichte in das Buch aufnimmt. Ereignisse zu beschönigen oder gar zu verfälschen dient niemandem. Manche Geheimnisse belasten eine Familie über viele Generationen hinweg, gerade weil versucht wurde oder wird, sie zu vergessen. Niemand hat sich seine Ahnen ausgesucht, und es sind eine ganze Menge Ahnen! Wenn wir bedenken, dass wir nur 8 Generationen zurück gehen müssen, um insgesamt 256 direkte Vorfahren zu haben, dann wissen wir wohl, dass nicht alle unseren Vorstellungen von idealen Verwandten entsprechen können. Wieviele Vorfahren - schätzen Sie - kommen zusammen, wenn Sie 5 Jahrhunderte zurück gehen? Was würden sie alle zusammen wohl füllen? Ein Theater? Eine Schule? Eine Universität?

Sechzehn Generationen zurück zählen 65536 Menschen zu Ihren direkten Vorfahren! Für Ihre Kinder sind es doppelt so viele. Ein Fußballstadion voll Menschen brauchte es seither, um Ihnen Ihr Gesicht zu geben. Denn wenn wir für eine Generation einen Abstand von 30 Jahren annehmen, dann sehen wir, dass die ältesten von diesen rund 65.000 Menschen nicht etwa in der Steinzeit lebten, sondern erst vor etwa 500 Jahren, zur Zeit Martin Luthers.

Die meisten von uns werden nur von einem winzigen Bruchteil all dieser Menschen, ohne die wir nicht die wären, die wir sind, überhaupt den Namen und vielleicht das ein oder andere Datum herausfinden. Aber aus diesen wenigen Daten können wir, wenn wir geschickt sind, sehr viel über ihre Lebensumstände erfahren. Geschichtliche Daten bekommen eine neue Bedeutung für uns und alle Nachkommen, die die Familienbiographie in die Hand nehmen werden. Von jenen Generationen, über die wir mehr wissen, das wird in den meisten Fällen die Eltern- Großeltern und mit Glück noch die Urgroßelterngeneration sein, können wir den Nachkommen weit mehr berichten. Fotos und andere Erinnerungsstücke können in einen möglichst untrennbaren Zusammenhang mit der Person gestellt werden, um sie vor der Gefahr des Vergessenwerdens zu bewahren.

Der ein oder die andere dieser vielen Menschen mag unseren Vorstellungen von Ethik, von Charakter oder Lebensstil nicht immer entsprechen und anders gehandelt haben, als wir uns wünschen würden. Meist werden wir darüber ohnehin nichts erfahren. Wenn aber doch, dann hätten wir so die Möglichkeit, gerade dieses Wissen als Chance zu nützen über bestimmte Dinge nachzudenken und die ein oder andere, aus heutiger Sicht falsche, Entscheidung als Warnung für die Familie anzusehen. Viel öfter aber tragen die Entdeckungen über die Vorfahren dazu bei, heutige Generationen zu motivieren. Manchmal sieht man dann sogar sich selbst in einem anderen Licht. Und dies ist eine der wesentlichsten Entdeckungen, die Sie bei der Erforschung Ihrer Herkunft machen können.
Zitate von http://www.abendblatt.de/ratgeber/wissen/article1453798/Ahnenforschung-traegt-Zuendstoff-in-sich.html

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